Wir sind dann mal in China...12. Woche

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Sonntag, 30.9. - Mid Autumn and Mooncake festival - HALBZEIT

Und damit haben wir schon den 79. von 159 Tagen in China erreicht, es ist Halbzeit! Die Tage und Wochen vergingen wie im Flug, keine einzige Minute Langeweile aber auch kein Stress, sozusagen einfach ideal. Im Prinzip könnten wir es hier durchaus noch viel länger aushalten, aber zuhause in Deutschland warten große -nein eigentlich kleine- Neuigkeiten auf uns: Wir werden Großeltern, wenn alles gut geht aber erst, wenn wir wieder in der Heimat sind. Wenn das kein Grund ist, sich auf zuhause zu freuen?!

Aber nun zurück nach China: Man feiert heute das "Mid-Autumn-Festival", auch "Moon-Festival", im weitesten Sinne ein Erntedankfest, wo aber nicht nur der Natur für eine gute Ernte gedankt, sondern insbesondere dem Mond besondere Beachtung geschenkt wird. Traditionell verspeist man im Mondschein den sogenannten Mondkuchen. Der typische Mondkuchen ist etwa so groß wie ein Muffin, nur flacher und etwa 10 mal so schwer. Er besteht aus einer fast geschmacksneutralen Teighülle und einer meist süßen, etwas fettigen Füllung aus Zucker, pflanzlichem Fett und einer Paste aus Samen der Lotuspflanze. Manchmal enthält er außerdem gesalzene Eidotter im Inneren, die den Vollmond symbolisieren sollen. Salziges und Süßes in einem Kuchen entsprechen dem Prinzip der Harmonie von Yin und Yang. Der Kuchen wird mit chinesischen Schriftzeichen verziert, zum Beispiel für "langes Leben" oder für "Harmonie". Wahrscheinlich kauft kein einziger Chinese sich jemals selbst einen Mondkuchen, das Verschenken des Gebäcks ist ein wichtiger Bestandteil des Festes. Schon Wochen vorher biegen sich die Supermarktregale unter der -nicht immer- süßen Last. In schönen Verpackungen werden die Teile in Massen angeboten und vor dem eigentlichen Fest an liebe Freunde und Verwandte verschenkt. Das Garstige an den Mondkuchen ist, dass sie von außen eigentlich alle fast gleich aussehen. Wer also die Packungsaufschrift nicht lesen kann, erfährt erst beim Reinbeißen, welche Füllung er erwischt hat. Dieter und ich haben noch KEINE Füllung gefunden, die wir wenigstens als halbwegs schmackhaft bezeichnen würden. Es gibt welche, die wandern direkt in den Müll, die anderen kann man irgendwie essen, aber ein freudiger Genuss ist uns noch nicht untergekommen. Mit dieser Einstellung sind wir unter den Ausländern nicht allein. In einem Expat-Forum fand ich diesen Beitrag:

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Isst eigentlich irgendjemand die Mondkuchen?
Letztendlich JA! Aber das ist auch gar nicht seine eigentliche Bestimmung. In erster Linie ist der Mondkuchen ein Ausdruck von Zuneigung. Das Leben eines Mondkuchen sieht im Allgemeinen so aus: Ich kaufe eine schöne, teure Packung Mondkuchen von einer bekannten Firma und schenke sie Dir, weil Du mein allerbester Freund und somit erster Kandidat für diesen Zuneigungsbeweis bist. Du bedankst Dich brav, drehst Dich um und schenkst ihn weiter an einen anderen Freund, der etwas niedriger auf der Sympathieleiter steht, den Du aber erfreuen möchtest. Der wiederum freut sich, dass er damit kein Geld für den Erwerb von Mondkuchen ausgeben muss und schenkt die Packung einem Verwandten. Dieser ist hocherfreut, weil er vergessen hatte für seine Haushaltshilfe Mondkuchen zu besorgen und schenkt ihr die Packung mit allen guten Wünschen. Sie macht ihrer Tochter eine vermeintliche Freude damit. Aber dieser rebellierende Teenager hasst Mondkuchen, schmeißt ihn achtlos auf die Straße, wo er letztlich von einem streunenden Hund gefressen wird.

Also abgesehen von 3 Packungen Mooncakes, die uns chinesische Bekannte geschenkt haben, geht das Mid-Autumn-Festival ziemlich spurlos an uns vorüber.

Ein Gottesdienst der etwas anderen Art

Wir erleben heute ein ganz anderes Highlight: Unsere amerikanischen Nachbarn Emily und Steve nehmen uns mit in die "Kirche". Ihr wisst, dass uns die Kirche recht viel bedeutet, ich setze sie hier in Anführungszeichen, weil der heutige Gottesdienst für uns sehr überraschend war und mit nichts, was wir bisher in Kirchen erlebten, zu vergleichen ist.

Ort der Veranstaltung ist ein Konferenzsaal in einem großen Hotel in der Innenstadt. Organisiert wird das Ganze vom "Nanjing International Christian Fellowship", ein offener Zusammenschluss von Christen aller Herren Länder, gänzlich konfessionsübergreifend. Die große Mehrheit der Anwesenden sind Schwarzafrikaner, ein paar westliche Weiße und fast überhaupt keine Asiaten. Die ca. 400 Sitzplätze sind knapp ausreichend. Vorne hat sich eine Band mit E-Piano, mehreren E-Gitarren und Schlagzeug aufgebaut, daneben ein gemischter Chor mit knapp 20 Sängern, auch fast durchgehend dunkelhäutig.

Der Gottesdienst beginnt durch eine kurze, laute Ansprache der Solosängerin. Es ist mir fast peinlich es so zu schreiben, aber der Stil erinnerte mich unwillkürlich an Kasperletheater: "Seid Ihr auch alle da?" - "Jaaa" nur dass es hier ein anderer Wortlaut war: "Seid Ihr alle bereit, Gott unseren Herrn zu preisen?" - "Jaaaaa!" - "Das war aber schwach, das könnt Ihr besser!" - "Jaaaaaaaaa!" - "Gott will Euch hören, ruft ihn an!!!!" - "JAAAAAA !!!!" Aus dem Fernsehen kenne ich diese fast ekstatischen afro-amerikanischen Gottesdienste und fühle mich ziemlich fremd. Nicht dass ich unbedingt einen total steifen katholischen Gottesdienst in lateinischer Sprache bevorzuge; gerne modern, locker und mit fetziger Musik, aber das hier kratzt deutlich an meiner Toleranzgrenze. Der wundervolle Gesang des Chores, in den die Gemeinde mit einstimmt, versöhnt mich jedoch recht schnell wieder. Wir kennen die Lieder nicht, aber die Texte werden per Beamer auf der Leinwand angezeigt, so dass ich ganz gut mitsingen kann. Eine halbe Stunde lang wird nur gesungen, zwischendurch heizt die Solistin die Stimmung mehrmals mit ihren eigenartigen Ansprachen auf.

Dann ergreift ein älterer Schwarzer das Wort zum Gebet. Bestimmt 10 Minuten lang betet er für alles erdenkliche von allgemeiner und spezieller Gesundheit bestimmter Personen, Weltpolitik, Wohlergehen der eigenen Gemeinde, finanzieller Sicherheit für die Studenten über Verschonung von Umweltkatastrophen bis Beruhigung des Nanjinger Verkehrschaos'. Die Gemeinde antwortet seinem Gebetsruf jeweils mit einem gesungenen Halleluja. Soweit so gut, dem können wir uns problemlos anschließen.

Nach der Bibellesung folgt die Predigt eines jüngeren Schwarzen, offenbar junger Familienvater. Das dauert glatt eine Stunde, aber er macht es ziemlich anschaulich und nimmt auch immer wieder Bezug auf die verschiedenen anwesenden Kulturen, z.B. als es um das unterschiedliche Bild der Vaterfigur geht. Nicht überall ist es ein "Daddy" mit dem man spielen und fröhlich sein kann, mancherorts ist der Vater auch heute noch die pure Respektsperson, die mehr Angst und Unterwürfigkeit als Wohlbehagen auslöst.

Der Gottesdienst endet nach 2 Stunden mit viel enthusiastischem Gesang Dank des hervorragenden Chors. Leider wurde kein "Vater Unser" gebetet. Das war es, was ich bisher in Gottesdiensten rund um die Welt in verschiedenen Sprachen wie englisch, französisch, italienisch, spanisch immer besonders mochte, denn dieses weltumspannende Gebet hat immer den fast identischen Rhythmus und vermittelt einem auch am anderen Ende der Welt ein Gefühl von Heimat. Schade, dass es hier nicht vorkam.

Im Anschluss gehen wir mit Emily und Steve noch zusammen bei Pizza-Hut essen. Wir erfahren viele interessante Dinge, die die beiden in nunmehr einem Jahr China schon erlebt haben. Zum Beispiel war uns im Gottesdienst eine Einblendung auf der Leinwand aufgefallen, dass entsprechend der lokalen Gesetzgebung nur Gäste mit ausländischem Pass, sowie Bürger von Hong Kong, Macau und Taiwan hier anwesend sein dürften. Steve erklärt uns, dass da die Sorge der chinesischen Regierung dahintersteckt, dass internationale Kirche das chinesische Volk auf "dumme Gedanken" bringen könnte. Man toleriert den Wunsch der Ausländer nach religiösen Zusammenkünften, für Chinesen sind diese aber generell tabu. Daneben gibt es durchaus chinesische Christen und Muslime, deren Gemeinden eine staatliche Genehmigung haben.

 

Montag, 1.10. - chinesischer Nationalfeiertag

Am 1.10.1949 wurde die Volkrepublik China gegründet. Dieses Jubiläum wird natürlich mit sehr viel militärischem Pomp gefeiert, dem wir uns gekonnt entziehen. Sowohl in der Nanjinger Innenstadt als auch auf dem Campus finden Paraden statt, auf die wir aber dankend verzichten. Insbesondere weil ich die aggressive Politik gegenüber Japan im Moment zutiefst ablehne.

Schon gestern war uns aufgefallen, dass uns eigentlich nichts aufgefallen ist, was auch nur im Entferntesten an einen Feiertag erinnert hätte: Pünktlich morgens um 6:30 Uhr setzt sich der Kran auf der nahegelegenen Uni-Baustelle mit unüberhörbarem Brummen und Quietschen wie jeden Tag, auch sonntags, in Bewegung. Gegen 7:00 Uhr beginnen wie immer die Hausmeister mit ihren großen Reisigbesen sämtliche Wege auf dem Campus zu fegen. Um 7:30 Uhr knattert der Kleinsttransporter der Müllabfuhr die Fußwege entlang und tauscht volle gegen leere Säcke in den Mülltonnen aus. Und auf dem Weg zum Gottesdienst sahen wir auch, dass sämtliche Geschäfte offen waren.

Auf Nachfragen erfahren wir, dass die meisten Firmen nicht arbeiten, sämtliche Behörden frei haben und sowohl Banken als auch Postämter zu sind. Die Geschäfte hingegen stellen für die Feiertage eher noch zusätzliches Personal ein, verlängern die Öffnungszeiten und locken mit besonderen Sonderangeboten.

Zum Abendessen haben wir Ruis eingeladen. Wir feiern seinen Geburtstag mit einem deutschen Essen: Schweinelendchen in Champignonrahmsoße mit handgemachten Spätzle und Mischgemüse. Dazu gibt's Württemberger Wein, den Prof. Schiehlen uns im August aus Deutschland mitbrachte.

 

Die Golden Week - Risiken und Nebenwirkungen

In China gibt es 2 sogenannte "goldene Wochen". Die eine im Frühjahr zum Spring-Festival, dem chinesischen Neujahrsfest und jetzt im Herbst zum Nationalfeiertag. Bezahlter Urlaub ist ein seltenes Gut in China. Wenn man nicht gerade Lehrer oder Uni-Professor mit geregelten Ferien ist, dann hat man zwar das gesetzliche Anrecht auf 10 Tage bezahlten Urlaub pro Jahr, aber fast kein Arbeitnehmer wagt es, seinen Boss darum zu bitten. Ganz im Gegenteil: An vielen Wochenenden wird durchgearbeitet. Und dann gibt es diese beiden Golden Weeks, wo quasi ganz China außer dem Dienstleistungsgewerbe frei hat. Sowohl für's Frühlingsfest als auch für den Nationalfeiertag gibt es je 3 Tage frei. Die beiden fehlenden Arbeitstage zum Füllen der Woche werden an Samstagen vorher reingearbeitet. Da dieses Jahr nun Herbst-Festival und National-Day direkt zusammenfielen, einigte man sich auf die längste Golden Week aller Zeiten: 9 Tage am Stück! Hört sich für unsere Ohren erstmal gar nicht gefährlich an, ABER: Wir reden hier von einem Volk mit 1,3 Milliarden Menschen. Wenn die auf Reisen gehen, haben wir eine Völkerwanderung enormen Ausmaßes. Und genau das findet hier diese Woche statt. Ein paar Zahlen aus den Fernsehnachrichten:

  • 365 Millionen Reisende, das sind die Einwohner der USA, Kanada und Australien zusammen!
  • davon 75 Mio Zugreisende
  • am 30.9. wurden 86 Mio Fahrzeuge auf den Autobahnen gezählt
  • 50 Mio Flüge wurden gebucht
  • Auch Nanjing ist einfach nur noch voll. Auf den Straßen gibt's kein Vorankommen mehr, Mega-Stau in allen Richtungen. Menschenmassen bewegen sich zu Fuß in Richtung Purple Mountain, wo sich Sun-Yat-Sen- und Ming-Xiaoling-Mausoleum befinden. Im Fernsehen zeigen sie Bilder von der chinesischen Mauer in Badaling, wo wir ja auch kürzlich waren. Wir empfanden es ja schon als voll, aber jetzt ist es nur noch der blanke Horror. Das selbe Bild an anderen touristischen Knotenpunkten:

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    Schlauerweise hat die chinesische Regierung für die gesamte Golden Week die Mautgebühren auf den Autobahnen gestrichen. Dadurch wird das Autofahren wesentlich billiger. Normalerweise kosten einen die etwa 1000 km zwischen Peking und Shanghai rund 160,- €. Bei so einem Schnäppchen machen sich natürlich noch mehr Leute auf den Weg, so dass der Mega-Stau einfach vorprogrammiert ist. In Europa kennen wir das seit Jahrzehnten und ein jeder versucht irgendwie diese Hauptreisezeiten möglichst zu vermeiden. Nicht so die Chinesen, für sie ist Reisen was völlig Neues und sie sind dann allen Ernstes überrascht, wenn der Verkehr unter diesen Voraussetzungen zum Erliegen kommt. In einem Fernsehinterview berichtete ein nervlich leicht angegriffener Autofahrer, dass er für die 60 km von Shanghai-City bis in sein Heimatdorf, nördlich am Highway nach Peking gelegen, knapp 10 Stunden brauchte. Laufen wäre schon fast besser, mit dem Fahrrad hätte er sehr viel Zeit gespart.

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    Ein weiteres Problem dieser grandiosen Menschenmassen ist der Müll. Auf einem 3 km langen, sehr beliebten Strand in Hainan blieben sage und schreibe 50 Tonnen Müll zurück und im Kaiserpalast von Peking 8 Tonnen pro Tag. Dieser Müll konnte nicht etwa gewogen werden, indem man die gut gefüllten Mülleimer leerte. Nein, Chinesen lassen ihren Müll generell und überall einfach nur fallen. Auch aus Bus- und Autofenstern wird alles einfach nur rausgeworfen auf die Straße. Da kommen dann solche Bilder zustande.



    Zum Ende der Golden Week gibt es im Fernsehen schon Diskussionen von Fachleuten, ob das Ganze wirklich so eine gute Idee war. Den Gedanken, dass man die Massen dadurch verkleinern könnte, dass nicht das gesamte Land in ein und derselben Woche frei hat, bringt bis jetzt jedoch noch niemand hervor. Einer lehnt sich sehr weit aus dem Fenster, indem er die Müllproblematik in direkten Zusammenhang mit mangelnder chinesischer Zivilisation bringt und sogar von Unkultiviertheit spricht. Das möchte ich gerne dreifach unterstreichen.

     

    Mittwoch, 3.10. - Über den Dächern von Nanjing

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    Überraschend laden uns Xiaoting und Ling zum Mittagessen ein. Es geht in den Zifeng-Tower, das höchste Gebäude von Nanjing, das 7-höchste der Welt. Von den 89 Stockwerken gelangen wir immerhin ins 76. und haben von dort einen weiten Blick über die Stadt, leider ist das Wetter nicht gerade ideal für die Aussicht.

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    Mit der Auswahl der Speisen trifft Ling heute ziemlich genau ins Schwarze. Ok, auf das Vögelchen hätte ich glatt verzichten können, aber der Squirrel-Fish (=Eichhörnchen-Fisch) in süß-saurer Soße und die Pekingente sind einfach nur lecker! Sogar die 15 cm lange Riesengarnele nehme ich heute mal mit Humor und zerre und zupfe mit beiden Händen bis ich endlich die Kruste vom weißen Fleisch getrennt bekomme.

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    Heute starte ich nochmal einen Versuch, die beiden an die Nähmachine zu erinnern, die sie mir zur Leihe angeboten hatten. Uuuuups, da treffe ich Ling an einem wunden Punkt. Sie hat die Maschine seit 25 Jahren ungenutzt in der Ecke rumstehen und ahnt berechtigterweise, dass das gute Stück ganz furchtbar verstaubt und festgefressen sein dürfte. Und wie wir so darüber sprechen, dass das ja ganz selbstverständlich sei und dass Dieter und ich die schon wieder fit bekommen, stellt sich heraus, dass es keine elektrische sondern eine Pedalbetriebene Maschine ist. Abgesehen davon, dass das Teil dann auch sehr groß, schwer und untransportabel sein dürfte, bin ich ja erfahrungsgemäß zu blöd für solche Maschinen. Es gelingt mir einfach nicht Füße und Hände unabhängig voneinander ordentlich zu koordinieren. Entweder ich trete hübsch gleichmäßig und halte die Mechanik im Vorwärtsgang am Laufen oder ich bewege den Stoff zielsicher unter der Nader entlang. Beides zusammen endet im Chaos, das habe ich schon 100 mal erfolglos probiert. Also rudere ich eifrig zurück und beteuere, dass ich meine Nähsucht bestimmt auch auf anderen Wegen - WELCHE ? - ausleben kann.

    Auf dem Heimweg kommen wir die Straße entlang, wo laut Auskunft von Prof. Abbas der Flughafenbus abfahren soll, den brauchen wir ja für unsere Guilin-Reise nächste Woche. Xiaoting selbst würde nie freiwillig S-Bahn oder Bus nutzen und Ling hat seit ihrer letzten Fahrt mit diesem Bus leider vergessen, wo der abfährt. Jedenfalls ergibt sich aus diesem Gespräch, dass man uns selbstverständlich einen Fahrer bereitstellt, der uns zum Flughafen bringt. Eigentlich lehnen wir solche Umstände ja ab, aber nachdem wir schon an 2 verschiedenen Stellen diesen verdammten Bus NICHT gefunden haben, nehmen wir das freundliche Angebot dann doch an. Wir haben 2 Quellen, was diesen Bus angeht:

  • Die offizielle Webseite des Nanjinger Flughafens. Die schickt uns in den Norden der Stadt, beschreibt die Stelle auch ganz genau, aber an dem dortigen Busbahnhof gibt es nur klapprige Überlandbusse und bei der schriftlichen, in chinesisch verfassten Frage nach dem Bus zum Flughafen erntet man nur fassungsloses Kopfschütteln, etwa so, als hätte man nach einem Taxi zum Mond gefragt.

  • Die Auskunft von Prof. Abbas mit Skizze und haarkleiner Beschreibung mit 2. Haltestelle des Bus 49 hinter der Stadtmauer, Mc.Donald auf der einen, KFC auf der anderen Straßenseite. Wir suchen wie bekloppt, kein Bus, der sich im Entferntesten von den Stadtbussen unterscheidet, auch keine Aufschrift oder ein Symbol mit einem Flieger drauf oder so, das wäre ja auch viel zu einfach.
  • Und nun Ling, die beteuert, dass der Bus wirklich irgendwo in dieser Straße abfährt, aber leider keinen Plan hat, wo genau. Und überhaupt sei das auch schon 2 Jahre her und möglicherweise wurde die Haltestelle ja verlegt…

    Und wie wir so über die Unzulänglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs sprechen, fragt sie mich ganz unvermittelt, ob ich vielleicht an einem Fahrrad interessiert sei. Ja, und ob !!!! Bei ihnen im Keller stünde ja das Fahrrad ihres in Deutschland studierenden Sohnes und keiner würde es benutzen. Das ist für mich wie Weihnachten und Ostern zusammen! Wie gerne hätte ich langfristig Fahrräder gemietet - geht nicht, gibt's nicht, kennt man hier nicht. Auch den Kauf von Fahrrädern habe ich schon erwogen, die einfachen kosten hier mal grade so um die 40,- €, aber das lehnt Dieter ab, weil man sich ja dann vor dem Heimflug wieder darum kümmern müsste, was damit geschehen soll… Im Zweifel stehenlassen und den Schlüssel dem nächstbesten Chinesen in die Hand drücken !?! Im Spreewald zahlt man schon 20,- € Miete pro Tag, da hätte ich doch ziemlich gelassen 80,- € Anschaffungskosten für 2 Fahrräder in 5 Monaten abgeschrieben? Dieter ist einfach der bessere Schwabe von uns beiden. Aber nun sind ja schlagartig alle meine bisherigen, vergeblichen Überlegungen und Vorschläge hinfällig. ICH bekomme jetzt ein Fahrrad, soll Dieter doch weiter zu Fuß gehen!

    2 Stunden später klingelt es an unserer Haustür und ein Student von Xiaoting bringt ein prima Fahrrad mit angenehm hohem Sattel nebst Kettenschloss vorbei. Yippiieee!!!!!! Leider ist es schon fast dunkel, so dass ich heute nicht mehr losradeln kann. In ganz China gibt's wahrscheinlich kein einziges Fahrrad mit Licht, und wenn doch, dann gehört es garantiert einem Ausländer.

     

    Donnerstag, 4.10. - mein erster Fahrradausflug

    Wie ein kleines Kind zu Weihnachten wache ich viel früher auf als sonst und kann es kaum erwarten, dass Dieter auch aufsteht, wir frühstücken, er in die Uni geht und ich mich auf's Fahrrad schwingen kann. Das klingt für Euch jetzt vielleicht total bekloppt oder übertrieben, aber versetzt Euch mal in unsere Lage: Wir sind es gewohnt 2 Autos zu haben, mit denen wir jederzeit überall hin mal eben schnell fahren können. Und die kurzen Wege, z.B. den 5-Minuten-Fußmarsch zum Postamt mache ich zuhause generell immer mit dem Fahrrad, nie würde ich freiwillig zu Fuß gehen oder ein unhandliches Paket dorthin tragen. Öffentliche Verkehrsmittel nutzen wir nur im äußersten Notfall oder bei Städtereisen.

    Im Gegensatz dazu müssen wir hier jeden Weg zu Fuß laufen. Dieter läuft 10 Minuten in die Uni, zum Supermarkt sind es ohne schwere Einkaufstaschen 15, auf dem Heimweg 20 Minuten, dasselbe zur Metro oder zur Bushaltestelle, ganz egal ob man Reisegepäck, einen Ikea-Einkauf oder "nur" die wöchentliche Getränkeration zu schleppen hat.

    Aber jetzt sieht das alles ganz rosarot aus, obwohl Xue's Fahrrad dunkelgrau ist. Ich schwinge mich auf den Sattel und steuere die Ruijin-Road an, wo dieser Flughafenbus nebst Fahrkartenbüro doch irgendwo sein muss. Obwohl Nanjing wesentlich hügeliger ist als die Lausitz, komme ich gut voran, sind ja auch nur 4 km. Und tatsächlich entdecke ich auf der anderen als der uns beschriebenen Straßenseite und etwa 100 m weiter östlich einen leeren Reisebus am Straßenrand. Nach abenteuerlicher Straßenquerung, sehe ich hinter dem Bus auch das versprochene Ticket-Office. Sicherheitshalber gehe ich rein und frage nach, ob das (Fingerzeig auf den weißen Reisebus) wohl der Bus zum Flughafen sei. Und, welch Wunder, man antwortet mir in Englisch und weist darauf hin, dass die Abfahrtszeiten am Schaufenster angeschrieben seien und dass die Fahrt 50 Minuten dauert. Cool!

    Beim Wegfahren schaue ich mir den Bus nochmal genau an. Er hat wirklich nicht den Hauch eines Hinweises darauf, dass er überhaupt irgendwo hinfahren wird, keine Anzeige an der Windschutzscheibe, kein Aufdruck, kein Symbol, kein Zettel irgendwo. Der geübte Chinese wird das wahrscheinlich riechen können oder so ähnlich.

    Sehr zufrieden mit meiner Entdeckung mache ich mich auf den Heimweg, nein eigentlich will ich ja auch gleich noch einkaufen. Als ich am Yueya-See die Stadtmauer quere, beschließe ich kurzfristig nach Norden abzuzweigen und bei dieser Gelegenheit den Park am See kennenzulernen. Was ist das schön, wenn man endlich auch mal größere Strecken abseits der Buslinien in endlicher Zeit zurücklegen kann. Am Nordende des Sees muss ich ziemlich bergauf strampeln und schließlich ein Stück weit schieben. Das größere Abenteuer liegt aber in der darauf folgenden 700 m langen Bergabfahrt. Es geht schon ordentlich abwärts und ich bemerke, dass meine Bremsen nicht wirklich gut funktionieren. Ich kann zwar eine stetige Beschleunigung verhindern, Anhalten wäre aber wirklich nicht möglich, zumindest nicht ohne Notbremsung per Schuhsohle. Also bin ich überhaupt nicht traurig, als ich im Tal ankomme und wieder in die Pedale treten muss/darf.

    Beim Einkauf nehme ich ganz beschwingt doch gleich noch 4 Liter Orangensaft im Sonderangebot mit, ich muss es ja nicht schleppen! Nie war der Heimweg so bequem wie heute. Ok, die Treppen in den 4. Stock nimmt mir mein Drahtesel nicht ab, aber zumindest erreiche ich diese völlig entspannt und unbelastet.

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